Inhalt
Einleitung
Prävention
Therapie
Studien
Bewegung
Schlussfolgerung
Anhang:
Evidenzklassen
BMI
Einleitung
Die Adipositas
ist im Kindes- und Jugendalter wegen der schon hohen und noch steigenden
Prävalenz ein ernst zu nehmendes medizinisches Problem, nicht nur
in Deutschland, sondern global •1.
Im Erwachsenenalter spricht man von Adipositas (deutsch
Fettleibigkeit, engl. Obesity), wenn der BMI (body mass index) >30
Kg/m² liegt. Übergewicht wird durch einen BMI von 25 bis <30
kg/m² definiert.
Bei Kindern und Jugendlichen gelten altersbezogen andere
Zahlen für den BMI als 25 bzw. 30, weil das Wachstum berücksichtigt
werden muss. Es gibt dafür Tabellen mit Werten für jedes Alter,
für männlich und für weiblich. Es handelt sich um eine
Adipositas , wenn der BMI über dem 97. Perzentil für das jeweiligen
Alter liegt; Übergewicht liegt vor, wenn der BMI zwischen dem >
90. und 97. Perzentil liegt.
In Deutschland liegt die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas
je nach Alter, Geschlecht, sozioökonomischem Status und Referenzwert
des BMI bei Schulkindern und Jugendlichen zwischen 10 und 20%, in einzelnen
Populationen bis 30%, wobei das Ausmaß der Adipositas und damit
die Anzahl extrem Adipöser deutlich ansteigt •2. In den letzten
15 Jahren kam es in Deutschland ungefähr zu einer Verdoppelung
der Adipositashäufigkeit. •3
Fettleibigkeit birgt ein hohes Risiko für chronische
Erkrankungen. Die Auswirkungen der Adipositas auf die Gesundheit können
kaum überschätzt werden. Es ist das am schnellsten wachsende
Gesundheitsrisiko. Diese Situation findet sich praktisch in allen westlichen
Industrienationen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1997 die
Adipositas als größtes Gesundheitsproblem eingestuft. Maßnahmen
zur Vorbeugung und Behandlung von Übergewicht sind dringend erforderlich.
In einigen Ländern wurden bereits nationale Aktionsprogramme beschlossen.
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Prävention
Der Prävention
kommt eine besondere Bedeutung zu und umfasst individuelles und gesellschaftliches
Vorgehen. In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Intervention gibt es
verschiedene Konzepte: Gesundheitsförderung, Primär- , Sekundär-
und Tertiärprävention (WHO-Report, 2000). Vgl. auch www.a-g-a.de
-> Leitlinien -> Prävention
Wann sollte mit Präventivprogrammen begonnen werden
und wen sollten sie betreffen?
Auf jeden Fall sollten alle übergewichtigen Kinder
und Jugendlichen einem Präventivprogramm zugeführt werden.
Besser wäre es darüber hinaus, jedes Kind frühzeitig
sowohl im Essverhalten, als auch in seinem Bewegungsverhalten so zu
beeinflussen, dass eine Entwicklung zum Übergewicht vermieden wird.
In orientierender Abschätzung lässt sich sagen,
dass adipöse 10- bis 13-jährige zu 70 - 80% bis ins Erwachsenenalter
adipös bleiben. Bei Kindern im Einschulungsalter ist dieser Anteil
geringer. Aus dicken Kindern werden also mit erheblicher Wahrscheinlichkeit
dicke Erwachsene, mit einem hohen Risiko nachfolgender Erkrankungen
(Komorbidität der Adipositas).
Es gibt nun gut begründete Hinweise aus Längsschnittuntersuchungen,
dass die ungünstige Entwicklung des Körpergewichts bzw. des
Körperfetts bei den später als adipös eingestuften Kindern
bereits in der Vorschulzeit beobachtet werden kann. •4 •5
Der BMI normalgewichtiger Kinder ist im ersten Lebensjahr hoch , fällt
im zweiten Jahr ab, und erst im 6. Lebensjahr zeigt sich wieder ein
erneuter Anstieg ( adiposity rebound ) des BMI. In vielen Fällen
kann man bei Kindern, die später als adipös auffallen, diesen
zweiten Anstieg schon 2-3 Jahre früher registrieren. Dabei sind
es nicht nur Einzelfälle, so zeigte sich in einer Studie aus New
York an über 1000 2 – 5 Jahre alten Kindern, dass 12.1% der
3 1/2 –jährigen oberhalb der 95. Perzentile lagen •6
( in den USA gelten andere Definitionen der Adipositas).
Es ist grundsätzlich wichtig, nicht nur im Hinblick auf Übergewicht
und Adipositas, eine Bewegungserziehung zu fördern, die Bewegung
und Sport als selbstverständliches, natürliches und positiv
erlebtes Phänomen vermittelt. Das muss schon vor dem Kindergartenalter
beginnen. In Elternhaus und Kindergarten muss für eine Erziehung
sensibilisiert werden, die Bewegung und motorisches Geschick bewusst
fördert, so dass ein lebenslanges Sporttreiben wahrscheinlicher
wird. Auch der Schulsport kann dazu beitragen.
Alltäglich ist zu beobachten, dass jüngere Kinder in der Regel
körperlich aktiver als ältere sind. Das ist ein weiterer Grund,
möglicht früh Lust an der Bewegung zu vermitteln.
„Schickt die Kinder nach draußen! Dort bewegen sie sich
und der Kühlschrank sowie der Fernseher sind nicht in der Nähe!“
(Bar-Or).
Nicht nur eine Erhöhung der körperlichen Aktivität
trägt zur Prävention der Adipositas bei. Auch die Reduzierung
einer vorwiegend sitzenden Lebensweise wie vor dem Fernseher hat einen
messbaren Einfluss.
Alles was in den Abschnitten Therapie und Bewegung /
Sport zur Förderung körperlicher Aktivität angeführt
wird, gilt natürlich auch bei der Prävention. Je früher
die Kinder an eine bewegungsaktive Lebensweise gewöhnt werden ,
desto eher kann diese zur bleibenden Gewohnheit werden. Ebenso wie bei
der Therapie der Adipositas Erfolge ganz stark an die Unterstützung
durch die Eltern gebunden sind, ist bei der Prävention die Beteiligung
der Eltern sehr wichtig.
Bei der Ernährungsberatung weiß man ebenfalls,
dass sie besser wirksam ist, wenn sie schon ganz früh über
eine Beratung der Eltern begonnen wird, damit alltäglich gesunde
Mahlzeiten zu einer bleibenden Ernährungsgewohnheit werden.
Das Körpergewicht, bzw. der Ernährungszustand ist nicht das
einzige Ziel, wichtiger ist ein gesunder Lebensstil, der Ernährung
und aktives Bewegungsverhalten umfasst
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Therapie
Adipositas wird
bisher von den GKV-Krankenkassen nicht als Krankheit anerkannt. Nur
in besonderen Fällen wurden bisher Kosten der Therapie übernommen.
Um so wichtiger ist es, bei künftigen Verhandlungen ein standardisiertes
und qualitätsorientiertes Behandlungskonzept vorlegen zu können.
Alle durch kontrollierte Studien gewonnenen Erkenntnisse führen
zu einem Konzept, in dem Ernährungs- und Bewegungstherapie mit
Psycho- bzw. Verhaltenstherapie kombiniert und auch die Eltern in das
Behandlungsprogramm eingebunden werden.
In der Praxis zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede
im Vorgehen. Nur sehr wenige Einrichtungen wenden ein kontrolliertes
Therapiekonzept an, führen Qualitätskontrollen durch und können
Angaben zum Behandlungserfolg machen. •7 (beispielhaft sollen
genannt werden:
FITOC, Freiburg Intervention Trial for Obese Children, Freiburg; mit
Erfahrung seit 1990. www.fitoc.de
Obeldicks, www.kinderklinik-datteln.de in Datteln;
sowie im Rahmen einer Längsschnittstudie KOPS, Kiel.
Auf Bundesebene wurden von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas
im Kindes- und Jugendalter (AGA) à www.a-g-a.de ?Leitlinien zur
Adipositas im Kindes- und Jugendalter nach AWMF-Kriterien vorgelegt,
die sich nach der Empfehlung der European Childhood Obesity Group (ECOG)
richten. Hier sind die Richtlinien für ein einheitliches Vorgehen
bei der Therapie festgelegt.
Eine Indikation zur Therapie wird ab dem 97.Perzentil des BMI und -
falls Risikofaktoren verliegen - schon ab dem 90. Percentil gesehen.
Warum soll Adipositas behandelt werden? Weil mit dem Überschreiten
dieses BMI-Grenzwertes das Risiko für nachfolgende Erkrankungen
nicht mehr geringfügig ist und beträchtlich ansteigt, wenn
der BMI-Wert noch weiter steigt. Die für das Erwachsenenalter gut
belegten Folgeerkrankungen können auch für das Kindes- und
Jugensalter angenommen werden. Wenn die Adipositas schon im Kindesalter
auftritt, besteht im Erwachsenenalter ein höheres Risiko (Morbidität
und Mortalität), als wenn die Manifestation erst im Erwachsenalter
eintritt. Zu erwarten sind folgend Erkrankungen:
Zuckerkrankheit (= Typ 2 – Diabetes, früher als Altersdiabetes
bezeichnet)
Bluthochdruck ( = Hypertonie ),
Fettstoffwechselstörungen,
koronare Herzerkrankungen,
Niereninsuffizienz
Gelenkschäden.
außerdem psychische und soziale Belastungen
Schon im Jugendalter können orthopädische Probleme,
Störungen des Glucose- und Fettstoffwechsels und erhöhter
Blutdruck als Begleiterkrankungen der Adipositas (Komorbidität)
registriert werden.
Im Umgang mit Adipösen und extrem Adipösen
ist besondere Sachkunde nötig. Im motorischen Bereich ist die verringerte
Belastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates, insbesondere der
Gelenke zu beachten. Die Muskulatur ist auf grund ihres Bewegungs- und
Trainingsmangels häufig nur unzureichend entwickelt. Die Beweglichkeit
und Koordination ist eingeschränkt. Die Ausdauer-Leistungsfähigkeit
ist geringer. Es wird angestrebt, für das in der Bewegungs- bzw.
Sporttherapie tätige Personal ein einheitliches Ausbildungscurriculum
anzubieten.
Als Erfolgsrate der meisten Behandlungskonzepte werden
am Ende der Intervention bei den evaluierten stationären Programmen
ca. 80% angegeben, bei ambulanten Ansätzen einschließlich
der Abbrecher ca. 50% •8. International liegen nur sehr wenige
vergleichbare Ergebnisse vor, sie zeigen Erfolgsquoten von 46 –
93%, bei Abbrecherquoten von 6 – 34%. •9 •10 Wirklich
von Bedeutung wäre die Aussage über die weitere Entwicklung
des Körpergewichts nach mehrere Jahren.
Auf mehrjährige Dauer gesehen kann körperliche
Aktivität den Fettanteil und evtl. erneute Gewichtszunahme effektiver
reduzieren als Diät. Deshalb ist eine Normalisierung des Körpergewichts
am besten durch die Kombination von körperlicher Aktivität
und Diät zu erreichen und zu stabilisieren. Eine körperliche
Aktivität, welche die besten Auswirkungen auf den Stoffwechsel
zu haben scheint, ist aerobe Aktivität von moderater Intensität
und längerer Dauer, am besten täglich. Wenn die Reduktionsdiät
nach langer Dauer z.B. einem Jahr eingestellt wird, ist der erneute
Anstieg des Körpergewichts nach einem weiteren Jahr bei leichter
körperlicher Aktivität von 80 Minuten täglich deutlich
geringer als bei 30 Minuten täglich. Deshalb gehört körperliche
Aktivität zu jedem Therapie dazu, mehr im Sinne einer Aktivitätssteigerung
als durch Sportkurse.
Als Problem erweist sich, dass für diejenigen Kinder, denen Freude
an Bewegung oder Sport vermittelt werden konnte, in den meisten Fällen
Möglichkeiten fehlen, wo sie sich nach einer ambulant und stationären
Behandlung weiterhin betätigen können. Ziel sollte es sein,
dass sich mehr Sportvereinen als bisher dieser Zielgruppe annehmen und
ohne Leistungsbetonung durch vielseitige Spiel- und Bewegungserfahrung
auch diesen Kindern das vermitteln, was zum Sport dazugehört: Freude
an der Bewegung. Entscheidend ist die Intention der Übungsleiter,
sich den Leistungsschwachen zuzuwenden, und Sachkunde im Umgang mit
stark Adipösen.
Eine langfristige sportliche Betätigung ist für diese Kinder
und Jugendlichen sehr wichtig.
Die Gewichtsreduktion ist nur ein Ziel. Ein anderes ist ein gesundheits-bewusstes
Gewichtsmanagement. Ohne eine konsequente Umstellung der Ernährung,
ohne eine Änderung der bisherigen Lebensgewohnheiten und ohne eine
Steigerung der körperlichen Aktivität sowie Reduzierung der
sitzenden Lebensweise z.B. vor dem Fernseher wird sich kein Erfolg einstellen.
Wahrscheinlich ebenso wichtig ist die aktive Teilnahme der Eltern.
Außerdem wird durch körperliche Aktivität
die kardio-respiratorische Fitness deutlicher verbessert, als es im
BMI zum Ausdruck kommt. Ein Grund mehr, Aktivität zu fordern und
zu fördern.
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Qualifizierte Studien
Qualifizierte Studien zum Thema Übergewicht / Adipositas und Bewegung
/ körperliche Aktivität / Sport liegen nur in geringer Zahl
vor.
Adipositas-Prävention bei Kindern
Die Cochrane Gruppe hat in ihrem Controlled Trials Register von 2001
nur 10 kontrollierte Studien über körperliche Aktivität
(physical activity) seit 1985 als auswertbar gefunden, die sich mit
Interventionen zur Adipositas-Prävention bei Kindern befassen.
Die Ergebnisse waren widerspüchlich und ließen keine allgemeine
Aussage zu. •11
Adipositas-Therapie im Kindesalter
Auch zum Thema Adipositas-Therapie und körperliche Aktivität
im Kindesalter liegen nur wenige kontrollierte Studien vor. Die Australische
Society for the Study of Obesity hat die internationale Literatur nach
Evidenz-Klassen beurteilt •12 und machte folgende Aussagen:
„Es gibt eine Evidenz, dass zunehmende körperliche
Aktivität einen Gewichtsverlust bei Kindern und Jugendlichen verstärkt,
wenn sie anstrengend (vigorous) ist.“
Evidenz-Klasse III-2
Daraus wird die Empfehlung abgeleitet, dass mehr körperliche Aktivität
als derzeit üblich zur Behandlung der Adipositas verordnet werden
sollte.
Da keine evidente Beziehung zwischen Gewichtsverlust
und Umfang, Intensität oder Sportart besteht, und weil bekannt
ist, dass Aktivitäten und Spiele der Kinder sich mit dem Alter
und dem Entwicklungsstand ändern, sollten die Verordnungen dem
Alter und dem Geschlecht angemessen sein.
„Die Reduzierung einer sitzenden Lebensweise ist
auf kürzere Sicht (short-term) ebenso effektiv wie gesteigerte
körperliche Aktivität.“
Evidenz-Klasse III-3
Es ist also hilfreich, wenn die Zeit, die der Adipöse täglich
sitzend verbringt, reduziert wird.
Von der Cochrane Group konnten zum Thema Adipositas und
Therapie bei Kindern in ihrem Contolled Trials Register 2003 nur 18
randomisierte kontrollierte Studien bewertet werden. Auf grund zu kleiner
Teilnehmerzahlen wurde kein statement abgegeben. •13
An Erwachsenen wurden weitere kontrollierte Studien durchgeführt.
Ob sie sich auf Kinder und Jugendliche übertragen lassen, muss
vorerst offen bleiben.
Das National Institut of Health, USA, hat Interventions-Studien
an adipösen Erwachsenen nach Evidenzkriterien untersucht. Zu einer
Beurteilung waren 24 kontrollierte Studien geeignet. •14: Folgende
Aussagen konnten bewertet werden:
„Körperliche Aktivität, und zwar
aerobe Übungen, bewirken bei überernährten und adipösen
Erwachsenen einen mäßigen Gewichtsverlust, unabhängig
von einer kalorischen Reduktions- Diät“
Evidenz Grad A.
„Körperliche Aktivität bei überernährten und
adipösen Erwachsenen reduziert in mäßigem Ausmaß
(moderate) das abdominale Fett“ Evidenz Grad B
„Körperliche Aktivität bei übergewichtigen und
adipösen Erwachsenen verbessert die kardio-respiratorische Fitness
unabhängig vom Gewichtsverlust“
Evidenz Grad A
„ Die Kombination einer kalorien-reduzierten
Diät und einer gesteigerten körperlichen Aktivität bewirkt
eine größere Gewichtsreduktion als körperliche Aktivität
allein oder als Diät allein“ Evidenz Grad A
„Eine Kombination von einer kalorien-reduzierten Diät und
gesteigerter körperlichen Aktivität verbessert die kardiorespiratorische
Fitness – gemessen durch O2-max – stärker als Gewichtsverlust
allein durch Diät“
Evidenz Grad A
Auf grund dieser Studien wird vom NIH der USA körperliche Aktivität
als Teil einer umfassenden Gewichtsreduktionstherapie und eines Gewichtsstabilisierungsprogramms
empfohlen . Evidenz Grad A
Die Australische Association for the Study of Obesity
hat ebenfalls die Literatur nach Evidenz-Kriterien untersucht. 13 kontrollierte
Studien an Erwachsenen führten zu folgenden Aussagen •15:
„Die Kombination einer kalorienreduzierten Diät mit gesteigerter
körperlicher Aktivität wird empfohlen, da sie
Gewichtsverlust bewirkt, Evidenz Grad A
das abdominelle Fett reduziert Evidenz Grad B
und die kardiorespiratorische Fitness verbessert“
Evidenz Grad A
„Körperliche Aktivität sollte ein integraler Teil einer
umfassenden Gewichtsreduktions-Therapie sein“
Evidenz Grad A
„Initial werden mäßige Intensität (moderate intensity)
körperlicher Aktivität empfohlen über 30-45 Minuten Dauer
an 3-5 Tagen in der Woche. Alle sollten sich ein langfristiges Ziel
setzen, um auf wenigsten 30 Minuten oder länger in mäßiger
Intensität und wenn möglich an allen Tagen der Woche körperlich
aktiv zu sein“
Evidenz Grad B
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Bewegung / Sport / körperliche Aktivität
als Behandlungsprinzip bei Übergewicht und Adipositas
Alle durch kontrollierte Studien gewonnenen Erkenntnisse führen
zu einem Konzept, in dem Ernährungs- und Bewegungstherapie mit
Psycho- bzw. Verhaltenstherapie kombiniert und auch die Eltern in das
Behandlungsprogramm eingebunden werden.
Bewegungsmangel trägt ganz wesentlich zur Entstehung von Übergewicht
und Adipositas bei.
Eine im Laufe der letzten Jahrzehnte veränderte
Umwelt mit Einengung des Bewegungsraums und vielfältige Angebote,
die der Bequemlichkeit dienen, begünstigen Bewegungsabstinenz.
Selten werden noch längere Fußwege unternommen; alltägliche
Besorgungen werden nicht mit dem Fahrrad unternommen wegen eines realen
oder angeblichen Verkehrsrisikos. Zum Kindergarten oder zur Schule werden
die Kinder auch bei kurzen Entfernungen mit dem Auto gebracht usw. usw.
Kinder brauchen eine Umwelt, die dem eigenen natürlichen
Bewegungsdrang entgegen kommt und Freude macht. Einengung und Vermeidung
der Bewegungsmöglichkeiten führen zwangsläufig zu Misserfolgen
infolge schlecht entwickelter motorischer Fähigkeiten; bei übergewichtigen
Kindern natürlich noch eher. Resignation oder aggressive Abwehr
stellen sich ein. Die Vermeidungshaltung bewirkt über verstärkten
Bewegungsmangel eine dauerhafte Veränderung der Energiebilanz und
weiteren Fettansatz. Je größer der Körperfettanteil,
desto beschwerlicher fällt jede Bewegung: ein Teufelskreis
Hat sich bereits ein erhebliches Übergewicht entwickelt,
so erleben die betroffenen Kinder kränkenden Spott. Ihr Selbstwertgefühl
sinkt und weitere psychische Störungen folgen: Rückzug aus
dem sozialen Umfeld, wodurch sich die Freizeitgestaltung ändert.
Fernsehen und Computerspiele dehnen sich zeitlich aus. Dadurch verstärkt
sich der Bewegungsmangel. Aggressionen nehmen zu und werden oft durch
Frust-Essen gedämpft. Aber auch umgekehrte Entwicklungen sind bekannt:
Angst oder Depressionen können die Ursache für verstärktes
Essen sein. Wenn außerdem ein gemeinsames Essen in der Familie
kaum noch zustande kommt und der Fernseher der einzige Unterhalter ist,
wird ohne Kontrolle gegessen.
Oft ist die ganze Familie betroffen, weil sich die gleichen
Ursachen, nämlich falsche Eßgewohnheiten und Bewegungsvermeidungsstrategien
bei allen Familienmitgliedern gleichermaßen auswirken. Durch Gendefekte
verursachte oder syndromale Erkrankungen sind sehr selten und sollen
hier nicht behandelt werden. Das Risiko des Kindes, übergewichtig
zu werden, steigt, wenn die Eltern übergewichtig oder adipös
sind. Deshalb ist es grundsätzlich wichtig und Erfolg versprechend,
die Familie in Therapie und Prävention einzubeziehen
In modernen Gesellschaften ist der Energieverbrauch durch
körperliche Aktivität im Alltag für die meisten zu gering,
um eine ausgeglichene Energiebilanz zu erreichen. Subjektiv ist es für
die meisten praktikabler und einfacher, die Kalorienzufuhr zu reduzieren,
als den Energieverbrauch zu erhöhen. Z.B. erscheint es einfacher
für jemand, der täglich ca. 2000 Kcal aufnimmt, 1000 Kcal
durch Reduktionskost zu verringern, als 1000 Kcal durch Aktivität
zu verbrauchen, vielleicht durch einen 10 km Lauf. Folglich leidet die
Popularität von Bewegung / Sport einerseits als Möglichkeit
zur Gewichtsreduktion, weil der Erfolg möglichst kurzfristig gewünscht
wird. Andererseits bewirken Kalorien reduzierende Diäten, dass
der Körper nach einiger Zeit den Verbrauch senkt und sich der Mangelsituation
anpasst. Stellt man die Reduktionsdiät ein, nimmt man wieder stärker
zu, obwohl man nicht mehr isst als vor der Diät: dies ist als Jojo-Effekt
bekannt.
Wichtig ist deshalb, durch regelmäßige Aktivität
- insbesondere durch vermehrte Alltagsaktivität - den Kalorienverbrauch
zu steigern
Der erste Ansatz in der Therapie muss pädagogisch-psychologisch
ausgerichtet sein: vor allem muss vermieden werden, Schuldvorwürfe
zu machen. Wer abnehmen will oder wenigstens verhindern will, dass er
weiter zunimmt, braucht Geduld und nochmals Geduld. Das bedeutet nicht
eine Zeit von Wochen oder Monaten, sondern von Jahren, in denen eine
geänderte Lebenseinstellung mit Änderung der Ernährung
und Stärkung der Alltagsaktivität beibehalten werden muss.
Am Anfang eines Bewegungs-Programms sollten gewichtsentlastende
Aktivitäten stehen wie Schwimmen und Rad fahren und in den Lebensstil
integrierbare Aktivitäten wie Treppensteigen statt Fahrstuhl usw.
Die Intensität ist in der Anfangsphase unwichtig.
Als Ziel sollte angestrebt werden, dass die Kinder wenigstens
30 – 45 Minuten in Bewegung bleiben. Sind Ausdauerbelastungen
kindgemäß? Eher nein. Ansprechender sind wechselnde Belastungen
in spielerischer Form. Musikalisch-rhythmische Begleitung kann anregend
wirken.
Es muss erreicht werden, dass Bewegung mit Spaß
und Freude verbunden wird; es muss vermieden werden, dass die Kinder
auf Grund ihrer verringerten Leistungsfähigkeit Anforderungen vermeiden
und das Programm abbrechen; usw. usw. Selbstverständlich sind das
jeweilige Alter und die unterschiedlichen Wünsche von Jungen und
Mädchen im Bewegungsprogramm zu berücksichtigen.
Erst wenn dieses Ziel erreicht ist und die Motivation
ausreicht, können die Anforderungen einem gesteigerten Leistungsvermögen
angepasst werden, wobei sich eine sehr große Vielfalt an Sportarten
und Bewegungsmöglichkeiten anbietet. Aktuelle Empfehlungen aus
England und den USA für körperliche Aktivität bei Kindern
lauten, dass wenigstens 60 Minuten moderate bis anstrengende Aktivität
pro Tag, die sich durch Spaß an der Bewegung und variierende Aktivitäten
auszeichnet, notwendig ist (•16, •17, •18 . Empfehlungen
für übergewichtige oder müssen aber berücksichtigen:
was ist wünschenswert, was ist machbar? und können lauten:
à körperliche Aktivität in mäßiger
Intensität mehr als 30 Minuten Dauer
an 3-5 Tagen in der Woche.
à Auf lange Sicht sollte angestrebt werden, wenn möglich,
täglich über eine Zeit von 45 bis 60 Minuten mäßig
aktiv zu sein.
?Wenn die Motivation trägt, ist ein längeres Programm günstiger.
Eine deutliche Verminderung vorwiegend sitzender Lebensweise –
gemeint sind insbesondere Fernsehen und Computerspiele - und die Verstärkung
der Alltagsaktivität kann diese Zeitangabe reduzieren.
Das Programm sollte nicht einseitig ausgerichtet, sondern
vielfältig gestaltet sein. Der Schwerpunkt sollte auf einem Ausdauertraining
liegen, aber auch ein Krafttraining berücksichtigen. Übungen
der allgemeinen Beweglichkeit sowie der Koordination sollten nicht vergessen
werden, sollten sogar bei stark Adipösen zu Beginn eines Programms
im Vordergrund stehen.. Auf lange Sicht wird sich ein flexibles Programm
durchsetzen. Auf jeden Fall muss verhindert werden, dass die Teilnehmer
vorzeitig unmotiviert aufgeben.
Der Sport muss Spaß machen. In diesem Zusammenhang stellt sich
die Frage der Motivation. Wer Sport rein zweckorientiert treibt, eben
immer mit dem Ziel "Abnehmen" vor Augen, wird wieder aufhören,
wenn sich nicht in regelmäßigen Abständen immer wieder
neue Erfolge einstellen. Denn die Menge der zusätzlich verbrannten
Kalorien wird häufig überschätzt. Die Gewichtsreduktion
ist aber nur ein Ziel.
Ein anderes Ziel ist ein gesundheits-bewusstes Gewichtsmanagement.
Ohne eine konsequente Umstellung der Ernährung, ohne eine Änderung
der bisherigen Lebensgewohnheiten und ohne eine Steigerung der körperlichen
Aktivität sowie Reduzierung der sitzenden Lebensweise z.B. vor
dem Fernseher wird sich kein Erfolg einstellen. Ebenso wichtig ist die
aktive Teilnahme der Eltern.
Wenn man den Sport allerdings gerne macht und sich auf
jede Trainingseinheit freut, ist ein längeres Durchhalten eher
gewährleistet.
Außerdem wird durch körperliche Aktivität die kardio-respiratorische
Fitness verbessert, deutlicher als es im BMI zum Ausdruck kommt. Eine
kürzere Übungszeit kann das Risiko für ein metabolisches
Syndrom und eine koronare Herzerkrankung reduzieren und die allgemeine
Fitness verbessern. Eine längere Ausdauerbelastung hat eher Einfluss
auf das Körpergewicht. Ein Grund mehr, Aktivität zu fordern
und zu fördern.
Die International Association for the Study of Obesity
hat auf einer Consensus Conference 2003 für Erwachsene ein tägliches
Programm mäßiger körperlicher Aktivität über
ca. 45 – 60 Minuten empfohlen und für Kinder sogar eine längere
Zeit, um einer Entwicklung zu Übergewicht und Adipositas vorzubeugen.
Darüber hinaus besteht Evidenz (aus Studien an Erwachsenen), dass
ehemals adipöse Individuen ein tägliches Programm von 60 –
90 Minuten mäßiger Intensität oder eine geringere Zeit
bei anstrengender Intensität benötigen, um einen Wiederanstieg
des Körpergewichts zu verhindern ( Saris et al.: 2003, Obesity
reviews).
Vielfach ist zu registrieren, dass Sportprogramme befolgt
werden, der übrige Tagesablauf aber in vorwiegend sitzender Weise
verbracht wird. Ein kurzfristiger Kalorienmehrverbrauch kommt dann nicht
zustande. Es ist demnach viel wichtiger, den gesamten Tagesablauf aktiver
zu gestalten. So sollten alltägliche Wege wie der Schulweg zu Fuß
oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Statt des Aufzugs oder
der Rolltreppe sollte die Treppe benutzt werden u.v.a.m. Wesentlich
ist auch die Verringerung der Fernsehzeit und der Computerspiele.
Erst in einer späten Phase ist es sinnvoll zu fragen,
welche Intensität und Dauer, bzw. welche Belastungsarten optimal
wären. Kontrollierte Untersuchungen zu diesen Teilaspekten fehlen
für das Kindes- und Jugendalter. Die wichtigste Intention der Übungsleiter
muss sein, zu verhindern, dass die Kinder oder Jugendlichen aufgeben.
Zu beobachten ist häufig, dass im Bemühen „Kalorien
zu verbrennen“ besonders anstrengende Übungen gewählt
werden. Nachteilig ist es, wenn diese ein Hungergefühl hervorrufen,
dem nachgegeben wird. Ebenfalls sollte vermieden werden, dass Durst
mit gesüßten Getränken gelöscht wird. Die weit
verbreitete Unsitte, schon Kleinkindern ständig gesüßte
Getränke anzubieten, hat vielfach zu einer fixierten Gewohnheit
geführt.
Wichtig ist, das Programm so zu steuern, dass die Motivation
zur körperlichen Aktivität gefördert wird. Die Auswahl
der verschiedenen Sportarten und Übungen sollte unterschiedliche
Wünsche der jeweiligen Alters- und Entwicklungsstufen und des Geschlechts
berücksichtigen und flexibel verändert werden können.
Die Berücksichtigung von Modesportarten kann motivationsfördernd
sein. Jede regelmäßige Bewegungsaktivität ist wichtiger
als ein vorher festgelegtes Übungsprogramm, das vielleicht abgebrochen
wird
Es sollte jedoch ein langfristiger Erfolg angestrebt
werden und noch nach vielen Jahren bewertet werden. Auf mehrjährige
Dauer gesehen kann körperliche Aktivität eine evtl. erneute
Gewichtszunahme effektiver verhindern als Diät. Deshalb ist eine
Normalisierung bzw. eine Stabilisierung des Körpergewichts am besten
durch die Kombination von körperlicher Aktivität und Diät
zu erreichen.
Zu jedem Therapie- oder Präventionsprogramm gehört
körperliche Aktivität dazu, mehr im Sinne einer alltäglichen
Aktivitätssteigerung als durch Sportkurse.
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Schlussfolgerung:
Die vorliegenden
Fakten reichen aus, Bewegung / körperliche Aktivität / Sport
zur Therapie und Prävention bei Adipositas zu empfehlen.
Bewegung, körperliche Aktivität und Sport sind ein notwendiger
Teil bei Therapie und Prävention der Adipositas
Dies soll insbesondere deshalb betont werden, weil auf den meisten Konferenzen
und Stellungnahmen zur global zunehmenden Adipositas die Ernährung
als deren wichtigste Ursache angesehen wird und dabei eine andere Ursache
vernachlässigt wird: der permanente Rückgang von alltäglicher
und sportlicher körperlicher Aktivität
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Anhang
Evidenzklassen
für Klinische Studien und Grad der Empfehlungen
Evidenzklassen des National Health and Medical Research
Council
für klinische Interventionen und der klinischen
Leitlinien des US National Institut of Health
•1 WHO: Report of a WHO Consultation on Obesity,
Obesity: Preventing and managing a global
epidemic.WHO,Genf,2000
•2 Leitlinien AGA
•3 Müller MJ et al. : Dt Ärzteblatt 1998; 95: A-2027-2030
•4 Rolland-Cachera et al. : Eur J Clin Nutr (1991) 45 : 13-21
•5 Dannemann A : Magisterarbeit, Public Health, TU Berlin, 2002
•6 Williams C : Presentation, Symposium 27.10.1998 der ASSO
•7 Reinehr T, Wabitsch M: Monatsschr Kinderheilkd (2003) 151:
757-761
•8 Campbell K et al. : The Cochrane Library : 3 (2003)
•9 Yanovski JA: Pediatr Clin North Am (2001) 48: 1041-1053
•10 Zwiauer KFM: EurJ Pediatr (Suppl 1) (2000) 159: 56-68
•11 Reinehr T, Wabitsch M: Monatsschr Kinderheilkd (2003) 151:
757-761
•12 National Guidelines. Australasian Society for the Study of
Obesity. September 2002
•13 The Cochrane Library, issue3, 2003
•14 NIH Publication 98-4083
•15 Australasian Society for the Study of Obesity. Clinical Guidelines
for weight control and obesity
management in adults (September 2002)
•16 Daniels SR, Arnett DK, Eckel RH et al. Overweight in children
and adolescents:
Circulation 2005, 111(15): 1999
•17 Department of Health PAHIaP. At least Five a Week. Evidence
on Impact of Physical Activity and its
Relationship to Health. Department of Health, editor. 2004
•18 Strong WB, Malina RM, Blimkie CJ et al. Evidence based physical
activity for school-age youth.
J Pediatr 2005; 146 (6): 732-737
Erarbeitet von der Sektion für Kinder- und Jugendsport der DGSP
Federführend:
Dr. J. Woweries (Berlin)